Barry Cotton
Geboren 1948 in Ipswich (England). Ausbildung an der Schule für Gestaltung in Basel. Arbeitet seit 1969 in Basel.
Lebt seit 2004 in Biel - Benken

Die Aussteller haben dreimal Werke von Barry Cotton gezeigt: 2002, 2005 und 2008.
Es ist eine Broschüre zu den Arbeiten von Barry Cotton verfügbar.


"Meine Arbeit ist eine Arbeit zwischen Herz und Kopf, in ständigem Wechsel ... es kommt die Kopfarbeit, ich nehme Formen und Bildkomposition wahr, dann addiere ich, eine zweite Farbe kommt hinzu ... das Unbewusste spielt hinein: wenn es mir zu stark gewollt erscheint, komme ich wieder mit dem Gefühl, mit dem Herz, um das streng Geformte aufzulockern ... dann wieder Zumachen mit Weiss, mit Gelb oder einer andern Farbe ... im Nachhinein denke ich, dass es etwas mit dem Buddhismus zu tun hat, mit der Vergänglichkeit, die sehr wichtig ist; auch, wie Dominik Perler geschrieben hat, mit den Schichten aus der Kindheit, die immer noch da sind; der erste Pinselstrich, der auf die Leinwand kommt, sieht man beim fertigen Bild immer noch durchscheinen. Schliesslich ergeben sich verschiedenste Formen, die aber alle voneinander abhängig sind, auch dies eine im Buddhismus wichtige Idee ... Die Bilder sollen Energie zeigen. Es gibt pflanzliche Teile, körperliche Formen, Mineralisches, alles soll im Fluss sein, in Bewegung ... das Vergangene und die Gegenwart sollen ineinander greifen ... Chaos und Ordnung, das ist auch vorhanden, vom Kopf das Konstruierte, und wenn ich merke, dass etwas zu starr, zu perfekt wird, muss ich es zerstören, und dann wird etwas Neues geboren."

Barry Cotton zur Ausstellung 2005




Schichten

Gedanken zu den Bildern von Barry Cotton

Dominik Perler
(Rede anlässlich der Vernissage "Schichten" 2002)


"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd." Mit diesen Sätzen eröffnet Christa Wolf ihren autobiografischen Roman Kindheitsmuster. Das Vergangene, von dem sie spricht, ist all das Erlebte, Erfahrene und Erlittene, das hinter uns liegt und scheinbar endgültig dem Reich des Toten angehört – aber eben nur scheinbar. Denn unsere Erfahrungen sind nicht unwiederbringlich vergangen, auch dann nicht, wenn wir sie gleichsam von uns abstreifen und weit weg verbannen wollen. Sie begleiten uns stets, ob wir uns dies eingestehen wollen oder nicht, und prägen uns in unseren gegenwärtigen Handlungen, aber auch in unseren Wünschen, Sehnsüchten und Zukunftsplänen. Daher sind vergangene Erlebnisse und Erfahrungen in gewisser Weise immer gegenwärtig, und zwar nicht nur als der Zielpunkt unserer Erinnerungen, sondern als ein eng geflochtenes Netz von Verhaltensweisen, Reaktionsmustern und Denkformen, das sich gleichsam über uns legt.

Wie feinmaschig und unentrinnbar dieses Netz ist, merken wir, wenn wir einmal versuchen, aus vertrauten Rollen auszubrechen, alte Gewohnheiten abzulegen und ganz neu anzufangen. Schon indem wir uns vom Vergangenen abgrenzen und ihm etwas Neues entgegensetzen wollen, anerkennen wir das Vergangene als etwas, was uns heute in unserem Handeln bestimmt und was wir heute in Angriff nehmen müssen. Und wenn wir uns zu Änderungen entschliessen, die zunächst radikal und einschneidend wirken, stellen wir nach einer gewissen Zeit fest, dass wir vielleicht bloss neue Akzente gesetzt oder Verschüttetes in unserem Leben ausgegraben haben, aber wir haben uns nicht vollständig verändert, und sicherlich haben wir nicht ganz neu angefangen. Denn vergangene Erfahrungen, Erfolgserlebnisse ebenso wie Misserfolge, haben sich wie Schichten auf uns gelegt – Schichten, die im Verlauf der Zeit immer zahlreicher werden und nicht getilgt werden können. Zwar sind die einzelnen Schichten in verschiedenen Lebensabschnitten entstanden, aber keine wird durch die überlagernde Schicht vollständig zum Verschwinden gebracht. Alle Lebensschichten sind gleichzeitig gegenwärtig. Es ist nicht zuletzt diese unmittelbare Präsenz des Vergangenen, die es uns erlaubt, unseren Ort in der Gegenwart immer wieder neu zu bestimmen: Wir können andere Schichten in unserer Biographie entdecken, andere Schichten sichtbar machen und dadurch auch immer wieder auf andere Schichten zurückgreifen. Nicht das radikale Auslöschen von Lebensschichten, sondern das Herstellen neuer Relationen zwischen den einzelnen Schichten und das Wiederentdecken vermeintlich verlorener Schichten macht Neuanfänge möglich.

Wenn wir die Bilder von Barry Cotton betrachten, die in den letzten Jahren entstanden sind, stellen wir zunächst keine Schichten fest. Wir sehen auf den ersten Blick nur kräftige Farben, mit wuchtigen Pinselstrichen aufgetragen. Die Anordnung der Farben und Formen scheint zunächst ein Spiel des Zufalls zu sein. Und die Assoziationen, die sich beim Betrachten dieses Spiels einstellen, scheinen ebenfalls zufällig zu sein. Mal glauben wir, Dutzende von Augen und Ohren zu sehen, mal entdecken wir wild spriessende Blumen, mal taucht eine wilde Fratze auf. Was für Gestalten auch immer wir zu erkennen glauben, die Struktur der Bilder scheint eindeutig zu sein: Abstrakte Gebilde in intensivem Blau und Orange, an einigen Stellen durch blasses Rosa und Grau ergänzt, präsentieren sich vor einem weissen Hintergrund.

Treten wir nun näher an ein Bild von Barry Cotton heran, verflüchtigt sich dessen eindeutige Struktur. Was zunächst wie ein einheitlicher weisser Hintergrund aussah, zeigt sich nun als Fläche, die ihrerseits einen Hintergrund hat; aus dem satten Weiss treten plötzlich bläuliche Gebilde hervor. Und was zunächst wie ein eindeutiger orange-blauer Vordergrund erschien, erhält nun eine Tiefenwirkung; an einigen Stellen tritt leuchtendes Orange aus dem Blau hervor, an anderen stellen legt sich das Blau vor das Orange. Etwas verwirrt fragt man sich: was ist nun Vordergrund, was ist Hintergrund? Ist es überhaupt angemessen, von Vorder- und Hintergrund zu sprechen? Je nachdem, worauf wir uns konzentrieren, rückt mal diese und mal jene Fläche in den Vordergrund. Vielleicht gibt es hier gar keinen eindeutigen Vorder- oder Hintergrund, sondern einfach verschiedene Schichten, die sich aufeinander legen. Je nachdem, worauf wir uns konzentrieren, ergeben sich aus den einzelnen Schichten verschiedene Vorder- und Hintergründe. Mal sehen wir vor einem bläulichen Hintergrund einen weissen Vordergrund, mal taucht gerade umgekehrt vor einem weissen Hintergrund ein bläuliches Gebilde als Vordergrund auf. Mal stechen satte blaue Stellen vor einem orangen Hintergrund hervor, mal dominieren orange Pinselstriche vor blauem Hintergrund.

So sehen wir immer wieder etwas Neues und betrachten doch ein und dasselbe Bild. Dies ist möglich, weil die verschiedenen Schichten gleichzeitig präsent sind und immer wieder die Wahrnehmung eines neuen Vorder- oder Hintergrundes erlauben. Keine Schicht lässt eine andere ganz verschwinden, keine wird durch eine andere vollständig zugedeckt. Es gibt somit keine Schicht, die ihre Bedeutung eingebüsst hat und "tot" ist. In Anlehnung an Christa Wolf könnte man sagen: "Das Vergangene - die Menge aller Farbschichten hinter der vordersten Schicht - ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." Jede Farbschicht ist gegenwärtig und beeinflusst die Wahrnehmung der anderen Farbschichten. Selbst wenn wir glauben, wir könnten uns doch auf eine bestimmte Farbschicht konzentrieren und alles Übrige einfach weglassen, sind die scheinbar unwichtigen Schichten präsent. Denn gerade dadurch, dass wir eine bestimmte Farbschicht als Vordergrund bestimmen, weisen wir den anderen Schichten eine besondere Funktion zu: sie lassen den Vordergrund erst als Vordergrund erscheinen und heben ihn von einem Hintergrund ab.

Geben wir einmal die Suche nach einem eindeutigen Vorder- oder Hintergrund auf, ergibt sich eine ähnliche Situation wie bei der Bestimmung von Vergangenheit und Gegenwart. Genau wie das Vergangene gleichsam in die Gegenwart hinein greift, ist auch der Hintergrund im Vordergrund gegenwärtig. Und genau wie sich immer wieder neue Konstellationen ergeben, wenn wir verschiedene vergangene und doch stets präsente Lebensschichten sichtbar machen, zeigt sich auch das Bild immer wieder neu, wenn wir einzelne Schichten aus anderen herauslösen. Das Bild selber legt uns nicht auf eine bestimmte Sichtweise fest. Wir sind es, die beim Betrachten Schicht für Schicht freilegen und dadurch Vorder- und Hintergründe schaffen. Wir sind es auch, die einzelne Schichten so zueinander in Beziehung setzen, dass plötzlich Augen, Ohren, Blumen oder gar Fratzen auftauchen.

In ihrem Versuch, das Vergangene sichtbar zu machen, begibt sich Christa Wolf in ein Kreuzverhör mit sich selbst. Sie fragt, wer denn dieses Kind war, das immer noch in ihr steckt, und welche immer noch lebendigen Muster dieses Kind geprägt haben. Doch in dem Kreuzverhör verschwimmen die Positionen nach und nach. Es wird immer unklarer, wer die Fragen stellt und wer befragt wird. Verwirrt stellt die Ich-Erzählerin fest: "Zwischen dem Selbstgespräch und der Anrede findet eine bestürzende Lautverschiebung statt, eine fatale Veränderung der grammatischen Bezüge. Ich, du, sie, in Gedanken ineinanderschwimmend, sollen im ausgesprochenen Satz einander entfremdet werden." Die Verwirrung entsteht dadurch, dass in der sprachlichen Artikulation plötzlich klare Grenzen gezogen werden sollen, die es in der Selbsterfahrung nicht gibt. Weil das Vergangene - auch das vergangene Kind - nämlich in der Gegenwart präsent ist, gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen der vergangenen Person, die als "sie" befragt werden soll, und der gegenwärtigen Person, die als "ich" die Fragen stellt. Sie und ich gehen ineinander über.

Als Bildbetrachter befinden wir uns in einer ähnlichen paradoxen Situation wie die Ich-Erzählerin. Wenn wir nämlich aufgefordert werden, ein Bild von Barry Cotton zu beschreiben, müssen wir in der sprachlichen Artikulation klare Grenzen ziehen zwischen dem, was wir als Hintergrund bezeichnen, und dem, was wir als Vordergrund bestimmen. Wir müssen erläutern, welche Formen oder Gestalten sich von anderen Gestalten abheben. Doch in unserer visuellen Erfahrung gibt es keine scharfen Trennlinien. Je nachdem, worauf sich unser Blick richtet, tritt mal diese und mal jene Farbe hervor, und es entsteht mal diese und mal jene Gestalt. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass wir sprachlich Grenzen ziehen, obwohl es keine eindeutigen Grenzen gibt. Wir trennen und "entfremden" etwas, was im Sehen ineinander fliesst. Wir nehmen Schichten auseinander, die in der Bildbetrachtung immer zusammen präsent sind.

Gerade in dieser paradoxen Situation zeigt sich freilich der besondere Reiz der ästhetischen Erfahrung. Die sog. aisthesis ist im Kern nämlich nichts anderes als Wahrnehmung, und eine ästhetische Erfahrung machen wir genau dann, wenn wir ein Wahrnehmungserlebnis haben – ein Erlebnis, das sich nicht vollständig sprachlich beschreiben lässt. Ein solches Erlebnis wird durch eine sprachliche Artikulation sogar verfälscht. Denn wir trennen in der Beschreibung jene Schichten, die wir im Wahrnehmungserlebnis zusammen sehen, und legen uns sprachlich auf eine bestimmte Anordnung der Schichten fest, obwohl im Erlebnis verschiedene Anordnungen ineinander übergehen. So schaffen wir sprachlich eine klare Ordnung, obwohl es keine eindeutige Ordnung gibt. Oder mit Christa Wolf gesprochen: Wir trennen bestimmte Schichten ab und erklären sie zu "vergangenen" Schichten, obwohl sie in der ästhetischen Erfahrung gegenwärtig sind.

Das Faszinierende an den Bildern von Barry Cotton besteht darin, dass sie sich nicht auf eine klare Ordnung festlegen lassen und gerade dadurch verdeutlichen, welche Kluft zwischen sprachlicher Beschreibung und ästhetischer Erfahrung liegt. Im visuellen Erlebnis sind uns – ganz im Gegensatz zur sprachlichen Beschreibung – mehrere Schichten gleichzeitig präsent und regen uns dazu an, gleichzeitig verschiedene Formen und Gestalten zu sehen. Nur im Sehen wird das Vergangene gegenwärtig."

Dominik Perler 2002 (Professor für Philosophie an der Universität Basel, seit 2003 Humboldt-Universität Berlin)